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AutorenbildNina Reißner

Beziehung statt Erziehung(?) –

Umgang mit Herausforderungen im pädagogischen Alltag



Die Vorstellung, dass Lehrende und Lernende in einer starren Hierarchie von Autorität und Gehorsam zueinanderstehen, ist längst überholt.


Im Idealfall sollen Lehrkräfte heutzutage Lernprozesse anleiten und begleiten, Leistungen individuell beurteilen und die ihnen anvertrauten Lernenden in ihrer Persönlichkeit stärken. Aber wie kann ich das als Lehrperson tun, wenn Lernende mit Beleidigungen oder sogar Stühlen um sich werfen? Mögliche Antworten darauf liefert der Ansatz der bedürfnis- oder bindungsorientierten Erziehung.


Ein grundlegendes Bedürfnis, das im pädagogischen Kontext manchmal übersehen wird, ist es, eine ansprechende Lernumgebung zu schaffen, in der die Lernenden sich wohlfühlen: Sind die Räume ansprechend gestaltet, kann die Temperatur gut geregelt werden, gibt es verschiedene Sitzmöglichkeiten oder vielleicht sogar höhenverstellbare Arbeitstische, gibt es Pflanzen oder Dekoration, gibt es eine Ruhe-Ecke, in der sich Personen bei Stress und Müdigkeit zurückziehen können, können Lerngruppen ihre Gestaltungswünsche einbringen?


Die Antworten darauf fallen leider oft unbefriedigend aus. Schulgebäude sind vielerorts marode, mit defekten Fenstern und schlecht funktionierenden Heizungen, Lehrpersonen bezahlen oft aus eigener Tasche Verbesserungen oder Verschönerungen der Lernräume, da das Budget dafür fehlt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich viele Lernende in den Einrichtungen, in denen sie so viel Lebenszeit verbringen, nicht besonders wohlfühlen. Ein toll gestalteter Lernraum ist natürlich keine Voraussetzung dafür, dass Fehlverhalten nicht mehr oder nicht mehr so häufig vorkommt. Trotzdem lohnt es sich im Hinblick auf größere Zufriedenheit und Produktivität, in eine gute Arbeitsatmosphäre zu investieren, was viele Unternehmen heutzutage schon erkannt haben.


Der zweite Punkt zum Umgang mit Lernenden, die unerwünschtes Verhalten zeigen, ist Beziehungsarbeit. Kinder und Jugendliche - und auch Erwachsene! – haben ein Bedürfnis nach Bindung und brauchen Bezugspersonen, die sie verlässlich begleiten, ermutigen und fördern, auch wenn sie Fehler machen. Wenn es um das eigene Kind geht, verzeihen die meisten Eltern täglich viele Fehler und es ändert nichts an ihrer Akzeptanz oder Liebe dem Kind gegenüber. Von diesem Gedanken, „ich sehe dich und nehme dich an und gleichzeitig darfst du Fehler machen und ich darf Grenzen setzen“, sollten Lehrpersonen sich im pädagogischen Alltag mehr leiten lassen.


Lehrpersonen sollten klare Grenzen setzen, aber bei Fehlverhalten nicht nur bestrafen, sondern versuchen, die zugrundeliegenden Bedürfnisse der Lernenden zu erforschen. Sie sollten auch bei problematischem Verhalten empathisch bleiben: „Was ist mit dir passiert? Was fühlst du gerade?“ anstatt zu kritisieren oder zu verurteilen: „Was ist denn nur los mit dir? Du bist schlecht für die Klasse, du hältst andere vom Lernen ab!“

 

Welche Voraussetzungen brauchen Lehrpersonen also, um nach diesem Ansatz handeln zu können?


1.       Zunächst einmal bedarf es einiges an Selbstreflexion und Achtsamkeit. Ich muss als Lehrperson wissen, was ich brauche, um mich wohlzufühlen, und welche Bedürfnisse mir persönlich wichtig sind. Aus meinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen ergeben sich die Grenzen für das Verhalten der Lernenden.

 

2.       Grenzen sollten am besten in Ruhe besprochen werden, bevor es zu einer Konfliktsituation kommt. Sollte es zu einem Konflikt kommen, der spontan und akut bearbeitet werden muss, sollte sich die Lehrkraft die Zeit nehmen, um die Grenzziehung zu begründen. Wenn sich die Lehrkraft bemüht, den Lernenden die Gründe für eine bestimmte Grenze zu erklären, fühlen sich Lernende eher wertgeschätzt als wenn die Grenze ihnen einfach durch die Autorität der Lehrkraft aufgezwungen wird.

 

3.       Ferner sollten Lehrperson die Fähigkeit besitzen, dass sie die Gefühle und das Verhalten von Lernenden nicht persönlich nehmen. Bei vielen herrscht immer noch die Meinung vor, dass unerwünschtes Verhalten von Lernenden ein Zeichen von mangelndem Respekt gegenüber der Lehrkraft ist. Tatsächlich liegen die Gründe dafür jedoch meistens in der individuellen Lebens- und Schulerfahrung, der Motivation, der Einstellung oder dem aktuellen körperlichen, seelischen oder emotionalen Zustand der Lernenden. Es kann helfen, wenn Lehrkräfte sich diese Tatsache immer wieder vergegenwärtigen, wenn sie merken, dass das Verhalten eines Schülers gerade starke Emotionen bei ihnen selbst auslöst. Ein gutes Bild hierfür ist die Lehrkraft als „Fels in der Brandung“, die auch in herausfordernden und chaotischen Situationen ruhig bleibt und für die Lernenden Orientierung und Halt bietet.

 

4.       Aus der bedürfnisorientierten Erziehung weiß man, dass Kinder lange Erwachsene brauchen, um große Gefühle regulieren zu können. Warum sollte dies bei Jugendlichen oder Menschen, die schlicht keine Chance hatten, Selbstregulation zu lernen, nicht der Fall sein? Wichtig ist es zu zeigen, dass alle Gefühle sein dürfen, aber man Möglichkeiten erlernen kann, wie man mit diesen Gefühlen so umgehen kann, dass niemand und nichts zu Schaden kommt bzw. dass man diese im Idealfall noch produktiv nutzen kann, z. B. durch freies Schreiben, Malen oder Bewegung.

 

Das ist leichter gesagt als getan und oft im fordernden pädagogischen Alltag nur schwer umsetzbar. Hier einige Tipps, wie es doch gelingen könnte:


1.       In schwierigen Situationen sofort und intensiv intervenieren

Wenn sich Lernende nicht nach den gemeinsam vereinbarten Regeln verhalten, mit den Betroffenen gleich ein Gespräch unter vier Augen suchen und auch mit der ganzen Lerngruppe reflektieren, wie man mit solchen Situationen in Zukunft umgehen könnte.

 

2.       Immer wieder und ohne Begründung auf bestehende Regeln verweisen

(„Prinzip der kaputten Schallplatte“)

Wenn eine Grenze immer wieder kommuniziert und erklärt und trotzdem regelmäßig verletzt wurde, wird die Grenze als Regel festgesetzt. Regeln werden einmal kommuniziert und danach geht es nicht mehr um die Begründung der Regel, sondern um deren Einhaltung. Natürlich darf man mit Lernenden über gewisse Punkte streiten, aber einige Grundregeln des Miteinanders wie Sicherheit, Verantwortung und Respekt, sind nicht verhandelbar, damit eine gute Lernatmosphäre entstehen kann.

 

 

3.       Bedürfnisse der Lernenden ernst nehmen

Wie die Snickers-Werbung auf lustige Art und Weise zeigt, reagieren Menschen oft viel heftiger und impulsiver, wenn Grundbedürfnisse nicht gedeckt sind. Es muss sichergestellt sein, dass alle physiologischen Grundbedürfnisse, die man in einem pädagogischen Kontext decken kann (Hunger, Durst, Toilettengang), auch gedeckt werden dürfen. Selbst wenn Lernende im Unterricht einschlafen, ist es naheliegend, dass Müdigkeit der Grund dafür ist und nicht primär Desinteresse am Lernstoff oder Respektlosigkeit gegenüber der Lehrkraft.

Außerdem sollten Lehrpersonen auch andere menschliche Grundbedürfnisse wie das Streben nach Autonomie, Zugehörigkeit, Kreativität, Ruhe, Kommunikation und Wertschätzung im Kopf haben und Lerneinheiten so planen, dass Lernende diese auch erfüllen können. Dabei hilft es, flexible Pausen oder Freiarbeitsphasen einzuplanen.

 

4.       Miteinbeziehen statt Ausschluss

Bei Fehlverhalten wird häufig mit Ausschluss der Person gearbeitet, entweder wird die Person vom Unterricht ausgeschlossen oder von gemeinsamen Aktivitäten oder im schlimmsten Fall von der Schule. Natürlich gibt es Situationen, z.B. Gewalt, bei denen Personen zum Schutz der anderen Lernenden ausgeschlossen werden müssen. Das Ziel sollte aber doch sein, alle in einer Lerngruppe einzubeziehen. Vielleicht kann die Person, die problematisches Verhalten gezeigt hat, sich an einem Boxsack abreagieren oder unter dem Tisch Rad fahren oder sich mit etwas Kreativem beschäftigen, z.B. in das Lerntagebuch schreiben oder etwas ausmalen. Das Signal von der Lehrperson an den Lernenden sollte immer sein: „Ich helfe dir, dich in der Gruppe zurechtzufinden.“ Oder „Ich zeige dir Wege und Möglichkeiten, wie du mit deiner Wut (deinem Bewegungsdrang, deiner Über- oder Unterforderung etc.) so umgehen kannst, dass es für dich und für dein Umfeld akzeptabel ist.“

 

5.       Verantwortung

Es ist eine Form von Selbst(wert)schutz, Fehler zu externalisieren und Anderen dafür die Schuld zu geben. Wenn also eine Person im pädagogischen Kontext oft erlebt hat, dass sie:er „aneckt“ oder nicht erfolgreich ist, könnte es sein, dass diese Person die Lehrpersonen, das System oder die Mitschüler:innen verantwortlich macht. Das Problem ist dabei, dass die Betroffenen angesichts ihrer Ohnmacht, etwas an den Ursachen ihrer Misserfolge zu ändern, ihr eigenes Verhalten nicht mehr reflektieren, sich nicht mehr anstrengen und dadurch wie in einem Teufelskreis wahrscheinlich noch mehr Erfahrungen des Scheiterns und der Ablehnung machen werden. Hier kommt es darauf an, den Selbstwert der Person zu stärken, indem man ihr:ihm Aufgaben überträgt und aufzeigt, wie er:sie eine schlechte Situation durch Mühe und Engagement, aber manchmal auch einfach durch eine andere Perspektive zum Positiven verändern kann. Hier können Lerntagebücher helfen, die den Lernenden die eigenen Lernfortschritte verdeutlichen, oder Dankbarkeitsübungen, die die Lehrperson anleitet und die Ergebnisse am besten im Lernraum sichtbar aufgehängt werden.

 


 

Quellen:


NDR Podcast und Artikel: Bedürfnisorientierte Erziehung: Was dahinter steckt. https://www.ndr.de/ratgeber/verbraucher/Beduerfnisorientierte-Erziehung-Was-dahinter-steckt,erziehung158.html (02.08.2024)

Rhode, Rudi und Mona Sabine Meis (2006): Wenn Nervensägen an unseren Nerven sägen. So lösen Sie Konflikte mit Kindern und Jugendlichen sicher und selbstbewusst.

TEDx Talk von Peter Nelmes: No such thing as naughty: Why we need to rethink challenging behaviour. Video unter https://www.ted.com/talks/peter_nelmes_no_such_thing_as_naughty_why_we_need_to_rethink_challenging_behaviour (05.08.2024)

TEDx Talk von Olympia Della Flora: Creative ways to get kids to thrive in school. Video unter https://www.ted.com/talks/olympia_della_flora_creative_ways_to_get_kids_to_thrive_in_school?subtitle=en&lng=de&geo=de (05.08.2024)

TEDx Talk von Andrew Ford: The elephant in the classroom. Video unter https://www.youtube.com/watch?v=MZjEOEg8-Qo (05.08.2024)

 

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